HOMEWORK

Esteban (49) setzt sich seit Jahren für den breiten Zugang zur PrEP in seinem Land ein. Wir haben ihn gebeten aufzuschreiben, wie es ihm in den letzten Monaten erging.

Ich werde die Geschichte mit dem Teil beginnen, den ich am meisten mag, und das ist, über mich selbst zu sprechen. Ich bin ein Künstler, der sich für das Perverse, für Religion, Mystik und Vergnügen interessiert. Diese Bandbreite an Möglichem hat mich zu einem neugierigen Charakter gemacht, offen für die Möglichkeit von Wissen, das auf Erfahrung basiert, statt auf akademischem Wissen, ohne dass das eine vom anderen ablenkt, es war einfach die Art und Weise, wie mir die Dinge gegeben wurden. Das Wissen war mein Leitmotiv bei all seinen Präsentationen. Das hat natürlich mein Sexleben nicht beiseite gelassen, es ist in der Tat der Bereich, in dem ich am meisten daran interessiert war, zu erforschen und mich mit dem Fluss treiben zu lassen, es mag wie eine totale Frechheit klingen, es war jedoch immer eine Übung, ein Weg der Erkundung, sogar für meine Arbeit, stolz darauf, in den von mir bereisten Städten, die Gay Cruising Areale zu entdecken, Glory Holes in allen möglichen Varianten auszuprobieren, von denen ich je gehört habe, zum ersten Mal zu fisten, einen Körper bis zum Äußersten zu penetrieren, was für mich zwar nie wirklich eine erotische Erfahrung, aber doch eine bewusste Erfahrung des Erforschens des anderen ist. Sex im Tausch gegen Englischunterricht – ich habe es nie für Geld gemacht, da ist nichts Moralisches versteckt, ich war nur immer schlecht fürs Geschäft – Sexclubs, BDSM, Saunen, kurz gesagt, ich versuche nicht, etwas Besonderes zu sein, ich spreche über Dinge, die für viele üblich sein mögen und in denen ich nicht nur meine  Lust zu befriedigen gefunden habe, sondern auch Material zu produzieren. Worauf ich hinaus will, ist, über eine bewusste Haltung gegenüber der freien Ausübung meines Begehrens zu sprechen und darüber, wie es nicht als etwas Fremdes in meinen Interessen funktioniert.

Ich war mir der Verantwortung bewusst, die all dies mit sich bringt, der Informationen und Vorsichtsmaßnahmen, die notwendig waren, auch der Grenzen, bis zu denen ich gehen kann und wenn ich sie überschritten habe, auch der Risiken. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, habe ich mich mit meinem leichten Zustand und der Vorliebe, alles zu vernaschen, was sich bewegt, abgefunden. Ich war mein ganzes Leben lang kondom-abhängig, bis ich in Bogotá, auf eine Realität stieß, in der „a pelo“ (ohne Sattel) besser ist und „venga lo preño“ (Los, schlag zu) wie Musik in den Ohren klingt, die begann, mich zu verführen und mich von der Last der Angst und der geistigen wie moralischen Abhängigkeit befreite, die ich empfand, wenn ich das Haus verließ ohne Kondom in der Tasche, und dabei zu realisieren, dass ich meine eigenen Grenzen einfach auch überschreiten wollte.

Ich begann dann, mich nach PrEP als sichere Alternative für mich zu erkundigen, nachdem ich mich naheliegenderweise bei der nächsten HIV-Präventionsagentur testen lassen hatte – immer noch null positiv. Meine Frage nach PrEP war wie eine Beschwörung des Teufels, es löste größeren Alarm aus, als wäre ich positiv getestet worden, man sagte mir, dass ich mich eher  anstecken würde, wenn ich es einnehmen würde, da das Medikament mein Immunsystem stark beeinträchtigen würde und dass die einzige Möglichkeit der Prävention Kondome seien. Ich wusste bereits über PrEP Bescheid, da ich Love Lazers schon seit mehreren Jahren kenne. Ich lud sie damals ein, um ihier n Bogotá Lateinamerikas erste spanischsprachige PrEP-Kampagne durchzuführen. Wir sprachen über die Vor- und Nachteile, die Versorgung, die Apothekenpreise hierzulande und darüber, wie man die PrEP überhaupt bekommt. Ohne es zu beabsichtigen, war ich bereits in der Stadt aktiv, ich dachte, je mehr wir über PrEP wissen, desto mehr können wir uns dafür einsetzen, dass es bald ins Gesundheitssystem integriert wird.

An meinem konkreten Beispiel wurde mir jedoch sehr bewusst, dass diejenigen, die in Kolumbien „Bescheid wussten“, offenbar nicht viel wussten. Ich bin dann zur EPS (Grundkrankenversicherung) gegangen, um Möglichkeiten zu suchen, um eine Behandlung zu bekommen und um mein Sex-Life, weiterleben zu können, es gab ein wenig mehr Informationen, aber es fehlten immer noch entscheidende: sie sagten mir dort einfach ins Gesicht, dass sie mir mit PrEP und ebenfalls nicht  mit den regelmäßigen Check-ups helfen könnten, wenn ich mit der Einnahme des Medikaments auf eigene Faust beginnen würde, denn obwohl als Präparat registriert, war es in Kolumbien nicht für die Vermarktung als PrEP zugelassen und seine Aufnahme in das Gesundheitssystem würde noch Jahre dauern. Dank der erwähnten Kreise, in denen ich mich in Bogotá bewege, gelang es mir, PrEP durch einen mir bekannten Arzt verschrieben zu bekommen begleitend mit den entsprechenden Labortests und mir zusagte, weiterhin ärztlich zu beobachten, wie mein Körper mit PrEP zurechtkommt. Es war wie ein Wiedereintritt ins Paradies: Freiheit, Information und das unter ärztlicher Aufsicht! Eine Phase, die ich in vollen Zügen genoss und die noch viel länger hätte dauern können, aber durch die Covid-Pandemie konnte ich die Kosten für die Untersuchungen nicht mehr aufbringen, erst recht nicht für die teuren Präparate. Selbst wer hier in Kolumbien einen Job hat, kann sich das als Normalsterbliche:r privat nicht leisten. 
Befreundete Dealer haben mir die Pillen angeboten, sogar mal umsonst, ich habe mich aber nicht getraut, sie zu nehmen – in einem Land, in dem alles gefälscht ist oder falsch verkoffert, wo alles aussieht wie echt, es aber nicht ist; außerdem erschien mir PrEP eine zu ernste Angelegenheit zu sein, und mein Körper auch, zudem ist die Idee dabei  ja der Genuss. Ich verstehe nun, wie der Schwarzmarkt für uns alle zum Mittel geworden ist, um Zugang zu PrEP zu bekommen und Kondome sind nicht mehr unbedingt erste Wahl. Es ist nicht so, dass ich den Staat für meine derzeitige Situation verantwortlich machen möchte, ich übernehme meine Verantwortung, aber ich stelle sein Interesse daran in Frage, uns zu unterstützen und uns mit gesundheitlichen Möglichkeiten zu versorgen, die uns erlauben, frei zu wählen.

Ich bin seit kurzem HIV-positiv, mein sexuelles Verlangen war stärker geworden als mein Wille und Kondome sind beim Sex nicht mehr erste Wahl. Nicht, dass der Staat für meine aktuelle Situation verantwortlich zu machen wäre, ich übernehme die volle Verantwortung, aber sein Anliegen stelle ich in Frage, uns gesundheitlich zu versorgen, so dass wir, frei wählen können – Heutzutage brauche ich kein Medikament mehr zur Vorbeugung, sondern zum Überleben  – bei all dem sind eine Menge Moral und wirtschaftliche Interessen im Spiel. Ich habe die persönliche Erfahrung machen müssen, dass sich unser Gesundheitssystem nicht für „Prävention“ einsetzt; sein unmittelbares Interesse gilt „Krankheit“ und dem Profit, den es daraus zieht. Es scheint, dass ein krankes Land besser regierbar ist.

Bogotá, Juli 2021

Hier findest du auch Informationen zu PrEP und unseren Artikel HOW MUCH LONGER DO WE HAVE TO WAIT…? (auf englisch).

 

© Love Lazers 2021. Alle Rechte sind dem Autor des Textes und Love Lazers vorbehalten. Foto: “Tiempos Gloriosos IX” von J. Betancurth, Künstler aus Bogotá/Kolumbien.

Wir Love Lazers haben gerade das Projekt UNHEARD VOICES OF PEOPLE WITHOUT ACCESS TO PREP gestartet. Wir sammeln kurze schriftliche Berichte von Menschen, die PrEP haben wollen, aber nicht bekommen (oder sie in letzter Zeit nicht bekommen haben). Wir freuen uns sehr, dass Sie dazu beitragen wollen! Bitte schreibe einfach einen kleinen Bericht in deiner Muttersprache und übersetze ihn ins Englische (wir können dir dabei helfen) und schicke beides an uns! E-mail an: info AT lovelazers.org